Welche dynamischen Beziehungen und Spannungen gibt es zwischen verschiedenen religiösen Traditionen, zwischen religiösen und nicht-religiösen Bereichen sowie zwischen Kosmologien und religiöser Praxis?
Welchen Einfluss haben Religionen auf die Entstehung von Konflikten, inwieweit be-stimmen sie deren Gestaltung und tragen sie möglicherweise dazu bei, dass Konflikte durch Aushandlungen beigelegt werden?
Dies sind nur einige der Fragen, die im Forschungsschwerpunkt „Kosmologien und religiöse Praxis“ behandelt werden. Mit dem Phänomen des christlichen Fundamentalismus, dem Zu-sammenhang zwischen Hindu-Religionen und indischem Königtum sowie Veränderungen des gelebten Islam stehen in den entsprechenden Projekten verschiedene Themen im Fokus, deren Bedeutung in den letzten Jahren auch über den akademischen Rahmen hinaus weltweit zu-nimmt. Dabei werden Religionen als Arenen verstanden, in denen unterschiedliche und oft auch konfligierende Interessen, Emotionen und Überzeugungen aufeinandertreffen. Es geht mit einer dezidiert religionsethnologischen und praxeologischen Perspektive in erster Linie um Äußerun-gen und Handlungen, also um das, was die Menschen etwa über ihre Glaubensvorstellungen sagen und darum, was sie im Rahmen von Ritualen und Alltagsleben konkret tun.
Betrachtet man die Geschichte des Instituts, so stehen heutige Forschungen zu religiösen Über-lieferungen und Praktiken in einer Tradition, die im Grunde bereits mit Frobenius beginnt: Er stand in engem Austausch mit den Religionswissenschaftlern seiner Zeit wie etwa Karl Kerényi, der wiederum mehrfach in der Institutszeitschrift Paideuma publiziert hat. Eine von Frobenius angelegte Exzerptur zu Motiven der „Weltmythologie“ gehört ebenso zu den Archivbeständen des Instituts wie das auf Hermann Baumann zurückgehende „Afrikanische Mythen- und Mär-chenarchiv“, das in den 1960er Jahren mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemein-schaft erweitert werden konnte.
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Adolf Ellegard Jensen beschäftigte sich auf der Basis von Forschungsaufenthalten unter ande-rem in Südäthiopien sowie auf der Molukkeninsel Ceram mit grundlegenden Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der Glaubensvorstellungen und religiösen Handlungen fremder Völker. Sein Hauptwerk „Mythos und Kult bei Naturvölkern“ (1951) fand zwar in der zeitgenössischen englischsprachigen Gelehrtenwelt wenig Resonanz, besitzt jedoch aus heutiger Sicht den Rang eines Solitärs. Der Erinnerung an den zweiten Direktor des Frobenius-Instituts sind die 1997 eingerichteten „Ad.E. Jensen-Gedächtnisvorlesungen“ gewidmet, in deren Rahmen bisher unter anderem die „Farbe des Heiligen“ (Michael Taussig, 2004), „Kult und Kunst“ (Fritz Kramer, 2010) sowie Religion als eine besondere Form des Sozialen (Maurice Bloch, 2012) behandelt wurden.
Auf Jensen folgten C.A. Schmitz, renommierter Neuguinea-Spezialist und Herausgeber eines Sammelbandes mit dem Titel „Religionsethnologie“ (1964), und Eike Haberland. Dessen Nach-folger Karl-Heinz Kohl veröffentlichte ab Mitte der 1980er Jahre zahlreiche Beiträge zur Religi-onsethnologie Ostindonesiens, wobei sein Augenmerk vor allem der „Wandlungs-“ und „Wi-derstandsfähigkeit“ von Lokalreligion galt. Seine Monographie „Der Tod der Reisjungfrau. Mythen, Kulte und Allianzen in einer ostindonesischen Lokalkultur“ erschien 1998 als erster Band in der von ihm begründeten Buchreihe „Religionsethnologische Studien des Frobenius-Instituts“.
Zu den zum größten Teil langfristig angelegten Projekten im Forschungsschwerpunkt „Kosmo-logien und religiöse Praxis“ gehört Holger Jebens’ Untersuchung melanesischer Cargo-Kulte als einer Sonderform religiös begründeter Befreiungsbewegungen sowie seine auf stationärer Feldforschung basierende Analyse des Verhältnisses von Lokalreligion, Katholizismus und Protestantismus im Bergland von Papua-Neuguinea, die zum Teil Einsichten der sich später etablierenden „Anthropology of Christianity“ vorweggenommen hat. Forschungen von Roland Hardenberg behandeln die Vielfalt der indigenen Religionen Indiens, den Zusammenhang zwi-schen Hindu-Religionen und indischem Königtum sowie Veränderungen des gelebten Islam unter dem Einfluss verschiedener fundamentalistischer Bewegungen in Zentralasien. Die von ihm im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „RessourcenKulturen“ geleiteten Projekte unter-suchen die Bedeutung wirtschaftlicher Praktiken und Vorstellungen für religiöse Institutionen (Kirchen, Moscheen und Tempel), Predigten (Christentum, Islam, Hindu-Religionen) und Rituale der Landwirtschaft (tribale Religionen und Islam) in Indien, Iran, Kasachstan und Kirgistan. Im Rahmen dieser und anderer, ebenfalls von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförder-ter Projekte werden Promotionsvorhaben zu religionsethnologischen Themen betreut, Work-shops veranstaltet, Seminare durchgeführt und Publikationen zu Themen wie Animismus, Per-spektivismus und Ritualökonomie vorgelegt. Ein von Hardenberg mitherausgegebener interdis-ziplinärer Sammelband mit dem Titel „Ritual and Social Dynamics in Christian and Islamic Preaching“ zum Beispiel erschien 2024 bei Bloomsbury.
Die Religionsethnologie verfügt zwar im deutschsprachigen Raum über eine lange Tradition, für die unter anderem die Werke von Konrad Theodor Preuß, Carl Strehlow und P.W. Schmidt stehen, sie wird aber in der heutigen universitären Ethnologie beziehungsweise Kulturanthropo-logie nur noch wenig beachtet. Von daher wächst dem Institut eine Sonderrolle zu. Angestrebt ist allerdings, die entsprechende Forschung nicht nur fortzusetzen, sondern auch zu konsolidie-ren und auszubauen. So beteiligt sich das Institut zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern der Ethnologie und Archäobotanik der Universität Groningen an dem Forschungsverbund „Ce-real Cultures in South and Central Asia“, aus dem verschiedene Drittmittelprojekte zur Untersu-chung der religiösen Bedeutung von Getreide hervorgehen sollen. Bei einem breit angelegten Forschungskonsortium, zu dem neben dem Institut und dem Forschungskolleg Humanwissen-schaften verschiedene Fachbereiche der Goethe-Universität gehören, geht es unter dem Titel „Dynamiken des Religiösen“ um Prozesse des Verstehens und Missverstehens zwischen den monotheistischen Schriftreligionen sowie zwischen diesen, anderen religiösen Überlieferungen und der säkularen Welt. Aus diesem Konsortium entsteht zurzeit eine Initiative für die Grün-dung eines Zentrums zur Untersuchung von religiösen Dynamiken im Rahmen der „Landes-Offensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz“. Das Land Hessen hat den Vorantrag positiv bewertet und das Antragskonsortium, zu dem auch das Frobenius-Institut gehört, aufgefordert, einen Vollantrag für das Forschungsprojekt „Dynamiken des Religiösen“ zu stellen Die Gründung einer weiteren Einrichtung, nämlich eines Käte-Hamburger Kollegs zu dem Thema „Toxische Religionen“, wird gegenwärtig unter Federführung von Birgit Emich, Roland Hardenberg und Hartmut Leppin beim Bundesministerium für Bildung und Forschung beantragt.
Abgeschlossene und laufende Drittmittel-Projekte
From „poor man’s food“ to „nutri-cereals“: emergence of a new millet assemblage in Odisha, India
(Roland Hardenberg, Förderzeitraum 2021-2023, DFG)
RessourcenKulturen von Reis und Weizen in Süd- und Zentralasien. Religiöse und (agrar-) ökonomische Dimensionen von Getreide
(Roland Hardenberg, SFB 1070, 2021–2025)
Religiöse Dynamiken in der Kafa Region Äthiopiens
(Alexander Chenchenko)
Langfristiges Projekt ohne zusätzliche finanzielle Förderung
Christlicher Fundamentalismus im südlichen Bergland von Papua-Neuguinea
(Holger Jebens)